Das ist nicht mehr mein Stadt – Brandenburg 2006

 

von Paul

 

"Das ist nicht mehr meine Stadt." Sie lässt die Gardine wieder vor das Fenster zurückfallen. Auf die Straße sehen bringt keinerlei Freude für sie. Nur noch Autos. Keine Menschen zu sehen. Sie geht zurück an ihren Frühstückstisch. Schneidet vom Brot die Rinde ab, weil sie nicht mehr so gut kauen kann. 'Früher gab es Brötchen,' erinnert sie sich. Sie lebt jetzt allein in ihrem Haus. Früher wohnten hier sechs Mietparteien. Früher war das Treppenhaus oft erfüllt von lautem Kinderschreien. Manchmal so laut, dass sie etwas sagen musste. Mittagsruhe. Heute bereut sie das fast. Die Einsamkeit frisst sich wie eine Brandwunde in ihre Seele. Sie hat jetzt Telefon, aber niemand ruft an. Ihre Kinder sind zu beschäftigt mit den Enkeln und mit Arbeiten. Der ganze Straßenzug wird immer leerer. Ihre Bekannten sterben weg. Wer noch jung ist und hier keine Arbeit findet geht in den Westen oder nach Berlin. Fast wie früher. Auch ohne Grenze. Dafür kommen viele Ausländer her.

 

"Das nicht meine Stadt." Wenn er auf seine Hände sieht, weiß er, dass er hier nicht dazu gehört. Die Farbe ist deutlich dunkler. Wo er herkommt schert man sich nicht darum. Dort sehen alle so aus. Dort ist es warm. Doch seine Kinder hatten nichts mehr zu essen. Arbeit gab es reichlich. Doch die brachte nichts ein. Irgendwann hörte er von einem anderen Land. Es war fast eine Verführung. Zu schön, um wahr zu sein. Er wollte nicht weg aus seiner Heimat. Doch man überredete ihn mit seinen Kindern. Die sollten es doch mal besser haben. Von Milch und Honig wurde nicht gesprochen. Doch es sollte hier alles besser sein. Weil sein Frau vor zwei Jahren gestorben war, hatte er niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte.

Die falschen Papiere waren teuer. In seiner Heimat gab es keinen Krieg. Nur Hunger. Aber wegen der Kinder. Für ihrer Zukunft lohnt es sich zu lügen. Das glaubte er zumindest. Nun ist er hier. Hat mittlerweile schon festgestellt, dass er nicht willkommen ist. Hier ist es immer so kalt. Er ist meistens dick angezogen, auch im Sommer. Die Kinder müssen hier in eine Schule und sprechen die Sprache kaum. Aber sie lernen sie schneller als er. Er hat oft Angst um sie. Die hellen Klassenkameraden sind eine Gefahr. Aber noch gefährlicher, dass hat er gelernt, sind die mit ganz kurzen Haaren. So kurz, dass man den brutalen Schädel darunter sieht.

 

"Das ist meine Stadt." Er fädelt die weißen Schnürsenkel in seine Stiefel. Irgendwo tief in seinem Inneren verschließt er Gefühle, von denen er selbst nichts ahnt. Überfremdung. Dagegen will er sich auflehnen. Nichts mehr hinnehmen. Zu lange hat er gebuckelt, meint er. Manfred sieht das auch so. Sein bester Kumpel und auch die ganzen anderen Kumpels.

Er sieht in den Kühlschrank. Kein Bier mehr da. Da stehen noch zwei Kästen. Die sind auch leer. Stütze kommt erst in einer Woche. Vielleicht reicht das Flaschenpfand für neues Bier. Scheißausländer. Sind an allem Schuld. 'Ich müsste nicht saufen, wenn die nicht wären. Scheißeinheit. Früher waren's nur die Fidschis. Mit denen sind wir fertig geworden. Heute lassen sie alles rein. Kaffer, Türken, Inder.' Er muss aufstoßen. Dönergeschmack macht sich in seinem Mund breit. 'Scheißdöner. Scheißtürken.' Heute besucht er seine alte Nachbarin. Die Frau ist allein. Sie kann einem leid tun. Wohin treibt dieses Land.

 

"Paul kommt heute." Sie freut sich jedes mal drauf. Früher hat er hier im Haus gewohnt. Heute wohnt er allein in einem Abrisshaus. Zahlt keine Miete. Trinkt viel. Seine Frisur gefällt ihr nicht. Aber es ist gut, wenn jemand kommt. Manchmal hat sie Angst, dass sie einfach nicht mehr Sprechen kann. Weil sie alleine ist und so lange schweigt. Sie spricht dann einfach so vor sich hin. Grade bevor Besuch kommt. Die sollen nicht merken, wie es ihr geht.

Hier in der Straße wohnen Türken. Weit genug weg, dass sie sie nur selten sieht. Da wohnen 3 Generation unter einem Dach. Wie es da in der Wohnung aussieht, will sie gar nicht erahnen. Hoffentlich behält Paul die Ruhe, wenn er an denen vorbei geht. Er prügelt sich so oft. Das bekommt ihm nicht gut. Es hat ihn schon ein paar mal die Polizei geholt. Und sie hat gar nicht alles mitbekommen was war.

Sie geht ans Fenster und schiebt die Gardine zurück. Ein Schwarzer mit zwei Plastiktüten geht die Straße entlang.

 

"Ich Paul." Gewöhnlich stellt er sich so vor. Sein richtiger Name ist zu kompliziert auszusprechen. Haben sie ihm zumindest auf dem Amt gesagt und ihm angeboten sich umzubenennen. 'Das hört sich wie Paul an. Paul ist doch ein schöner einfacher Name. Wollen sie nicht viel lieber Paul heißen. Das deutscht sie schon ein bisschen ein.' Er hat nicht alles verstanden, was die Frau ihm gesagt hat. Er hat einfach nur genickt. Das war keine Zustimmung, sondern nur Angst etwas falsch zu machen. Aber vielleicht war es schon falsch hierher zu kommen. Vielleicht war es schon falsch diesen Weg zu nehmen. Da kommt einer von diesen Kahlköpfen auf ihn zu.

 

"Den kenn ich. Ich glaub der heißt Paul. Ein Kaffer mit einem deutschen Namen. Mit meinem Namen. Nicht einmal unsere Namen lassen sie uns. Was ist eigentlich, wenn wir es nicht schaffen. Wenn wir die Kaffer, die Osmanen und die Fidschis nicht zurücktreiben können. Ins Meer, in den Busch, wo sie hergekommen sind. Wenn sie uns unsere Arbeitsplätze, unsere Frauen und unser ganzes Land weggenommen haben. Unseren Wohlstand sowieso. Für meine Kinder wird es normal sein, dass Fidschis und Kaffer in ihrer Klasse sind. Vielleicht kann ich mein Land nicht beschützen. Zumindest werd' ich so viele von denen platt machen, wie ich kann." Er rennt los.

 

"Was macht Paul denn da." Sie sieht immer noch aus ihrem Fenster. Der Schwarze mit den Plastiktüten ist zusammengezuckt. Er hat so viele Klamotten übereinander wie man sich nur denken kann. Vom anderen Ende der Straße rennt Paul auf ihn zu. Der Andere lässt die Plastiktüten fallen, will in eine Hofeinfahrt rennen, doch das Tor ist zu. Er rennt auf die Straße. Nein.

 

"Hilfe." Der Kahlkopf rennt auf ihn zu und er muss nicht abwarten, was er tun will. Er hat seine Erfahrungen. Die Tüten mit dem Einkauf fallen auf die Straße. Ein paar Eier zerplatzen, Glasflaschen splittern. Die nächste Einfahrt ist zu. Gleich ist er da. Ein Sprung auf die Straße kann die Rettung sein.

 

"Renn! Du kannst rennen, aber du kannst mir nicht entkommen. Lass deine Tüten nur fallen." Paul ist schnell. Früher war er auf einer Sportschule. Die wurde geschlossen. Für die DDR hätte er Wettkämpfe gemacht. Heute rennt er nur noch auf der Straße Kaffern hinterher. Der Schwarze will in eine Hofeinfahrt reinlaufen. 'Denkste geschlossen.' Gleich hab ich dich.

 

"Lauf weg Paul." Ein Golf. Ein Mann. Blut. Er bewegt sich noch. Er ist nicht tot. Aber sicher wird man das Paul ankreiden. "Lauf weg Paul. Du hast doch schon soviel Ärger mit der Polizei." Sie weiß, dass er sie nicht mehr besuchen kommen wird. Nicht mehr an diesem Tag und auch später nicht mehr. Man wird ihm das ankreiden. Das was mit dem Schwarzen da war. 'Warum muss der auch vor ein Auto rennen? Paul trifft doch keine Schuld.' Sie weiß, dass sie sich selbst was vormacht. Paul ist kein Engel. Aber er war der Einzige, der sie noch regelmäßig besucht hat. Nun wird die Einsamkeit über sie herfallen, wie Hitler über Polen. Alles nur wegen diesem Schwarzen.

 

"Kinder." Dass ist sein einziger Gedanke. Der Fahrer des Wagens steigt aus. Er sieht noch einen Mann weglaufen, der eine spezielle Frisur hat. 'Er trug eine grüne Jacke und schwarze Stiefel', wird er später der Polizei erzählen. 'Ich konnte nichts dafür. Der ist mir direkt vors Auto gesprungen. Vielleicht 'n Selbstmörder.' Paul spürt eine Wunde. Spürt wie das Leben aus ihm herausläuft, während der Mann neben ihm steht und per Handy Arzt und Polizei verständigt. Was wollte der andere nur von ihm.

 

"Das hab ich nicht gewollt." Paul gibt Fersengeld. Er weiß, dass sie ihn beschuldigen werden. Dass sie ihm Absicht unterstellen werden oder Schlimmeres. Er kann nicht hier bleiben. Nicht seine ehemalige Nachbarin besuchen. Nie mehr. An alle dem sind nur die Kaffer schuld. Scheißkaffer. Scheißbullen.


Du kannst alles erreichen was du willst ...
...es mag allerdings sein, dass du dich dafür anstrengen musst.

Last update: 24.10.2023